4/10/2016

GESCHWISTERLIEBE in "Der Fänger im Roggen" von J.D. Salinger - Wie Holden und Phoebe.


Tag fast vorbei, Deutschprüfung rückt in greifbare Nähe, ich analysiere schon eine Weile mit großer Begeisterung Friedrich Dürrematts Komödie "Die Physiker" (eines meiner absoluten Lieblingsdramen, deshalb ist das gar nicht mal so eine schlechte Art, sich den Tag zu vertreiben) und nach 50 Seiten intensiver Textarbeit, habe ich mir mal eine kleine Pause verdient. Und weil ich gerade so im Literatur-Fieber drin bin und heute zufälligerweise auch noch der Tag der Geschwister ist, wollte ich ein Zitat und einen kurzen Gedanken zu einem meiner Lieblingsbücher "Der Fänger im Roggen" dalassen:

Dann ging das Karussell los, und ich sah ihr zu, wie sie im Kreis fuhr. Es fuhren noch ungefähr fünf, sechs andere Kinder mit, und das Karussell spielte das Lied »Smoke Gets in Your Eyes«. Es spielte es sehr jazzig und komisch. Alle Kinder versuchten, nach dem goldenen Ring zu greifen, auch die gute Phoebe, und ich hatte irgendwie Angst, dass sie von dem verfluchten Pferd fiel, aber ich sagte nichts und tat auch nichts. Wenn Kinder nach dem goldenen Ring greifen wollten, muss man sie auch lassen und darf nichts sagen. Wenn sie runterfallen, fallen sie eben runter, aber es ist schlecht, wenn man ihnen was sagt.
Als das Karussell anhielt, stieg sie von ihrem Pferd und kam zu mir. »Jetzt fährst du aber auch mal«, sagte sie.
»Nein, ich seh dir einfach zu. Ich glaub, ich seh dir bloß zu«, sagte ich.
[...]
»Ich bin nicht mehr wütend auf dich«, sagte sie.
»Ich weiß. Beeil dich - gleich geht's wieder los.«
Dann gab sie mir auf einmal einen Kuss. Dann hielt sie die Hand auf und sagte: »Es regnet. Es fängt an zu regnen.«
»Ja.«
Und dann - es machte mich fast fertig -, und dann langte sie in meine Manteltasche, zog meine rote Jägermütze raus und setzte sie mir auf den Kopf.
»Willst du sie denn nicht?«, sagte ich.
»Du kannst sie eine Weile aufhaben.«
»Gut. Aber beeil dich jetzt. Sonst verpasst du die Fahrt. Dann kriegst du dein Pferd nicht.«
Aber sie blieb stehen.
»Hast du das ernst gemeint, was du gesagt hast? Gehst du wirklich nicht weg? Gehst du hinterher wirklich nach Hause?«, fragte sie.
»Ja«, sagte ich. Und das war auch mein Ernst. Ich belog sie nicht. Ich ging wirklich hinterher nach Hause. »Beeil dich«, sagte ich. »Das Ding fährt gleich los.«
QUELLE "Der Fänger im Roggen" von J.D. Salinger, Rowohlt Taschenbuch Verlag S.267

Ich habe "Der Fänger im Roggen" immer sehr für diese Stelle geliebt. Sie steht am Ende der Geschichte. Wäre das Buch ein klassisches Drama, wären wir bereits im 5. Akt - die Handlung fällt auf das Ende zu und die Katharsis-Funktion setzt ein: Der Zuschauer, bzw. Leser, nimmt eine Lehre mit.

Die Vorgeschichte zu diesem Ende kann man wie folgt zusammenfassen: Holden Caulfield - der Protagonist der Geschichte - ist kurz vor Weihnachten wieder nicht versetzt wurden und fliegt nun von der Schule. Er kehrt nach New York zu seiner wohlhabenden Familie zurück, trifft aber seine Eltern nicht an, nur seine kleine Schwester Phoebe, an der ihm sehr viel liegt. Holden hat ein Problem mit dem Erwachsen-Werden und sieht es praktisch als das größte "Verderbnis" an, das jemals jemand erfunden hat, und will sich von dieser kranken Gesellschaft abgrenzen, indem er von Zuhause abhaut. Bevor er das tut, will er sich jedoch noch von seiner kleinen Schwester Phoebe verabschieden, die - zu seinem Entsetzen - zum vereinbarten Treffpunkt mit einem gepackten Koffer kommt. Phoebe will mit ihm mit Abhauen. Kommt für Holden natürlich nicht infrage und nach einem Streitgespräch zwischen ihnen und einer Weile, in der Phoebe ihn anschmollt, verspricht er ihr, nicht von Zuhause wegzulaufen, solang sie das ebenfalls nicht tut.

Im oben genannten Textausschnitt wird Holden Caulfield erwachsen und übernimmt erstmals im Buch reale Verantwortung. Er verliert sich nicht mehr in seinem eignen Unglück, sondern wird, was er werden muss, um das Leben seiner 10-jährigen Schwester nicht aus den Fugen zu heben. 
Das ist vielleicht das Schönste und das Traurigste, was ich jemals über eine geschwisterliche Beziehung gelesen habe. Es tut so weh und gleichzeitig so gut. So zurückstecken - und wie sehr er tatsächlich zurücksteckt, dazu müsstet ihr wirklich das Buch lesen -, weil man jemand anderen als wichtiger als sich selbst sieht und das nicht nur als oberflächliche Phrase, sondern als Gesetz meint, ist der Inbegriff von Liebe - für mich. Nicht, weil es schön ist - vielleicht ganz im Gegenteil -, sondern weil es sehr ehrlich ist.


Red hair,
small frame,
spinning ’round and ’round
Bright smile,
bright eyes,
reach out, reach out
Hold on,
hold onto childhood
as long as you can
But I,
I must let go
I must
let you go
A new dream to find,
a new love to chase
Days to get better
Teary eyes,
about to see clearer
I’ll see you,
I’ll see you around
Around and around
The Carousel. 

Quelle: informalformalists.wordpress.com 

Ich schreibe über diese Geschwisterbeziehung, weil mein Bruder und ich eine sehr ähnliche Beziehung zueinander haben wie Holden und seine Schwester Phoebe (wobei die Rollen sicherlich auch gedreht werden könnten). Wir passen aufeinander auf, indem wir auf uns selbst aufpassen. Und ich weiß nicht, wie oft er mich im letzten Jahr daran erinnert hat, wie wichtig das ist und ob er sich dessen überhaupt bewusst ist. Wichtig ist nur, damit möchte ich enden: Christian, ich bin froh, dass du auf mich aufpasst und mich daran erinnerst, dass ich auch auf mich selbst aufpassen muss. Ich hoffe, dir geht es genauso.

Das war mein Wort zum Sonntag. Und denkt dran, eure Geschwister zu schätzen und aufeinander aufzupassen. Ob nun am Tag der Geschwister 2016 oder an jedem anderen Tag des Jahres.

Alles Liebe,
Antonia

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